Auf dem Weg von 2020 nach 2021

Gedanken zur Jahreslosung.

Wort an die Michaelsbruderschaft

Landesbischof Dr. h. c. Frank Otfried July

 2020

Ich glaube – hilf meinem Unglauben. Markus 9,24

Wenn das Vertrauen nicht mehr trägt…

…so könnte man die Geschichte aus Markus 9 überschreiben, aus der die Jahreslosung für das nun eben vergangene Jahr 2020 stammt. Nicht umsonst wird der Kinderglaube gerühmt. Kindliches Urvertrauen, das sich auch auf den Glauben überträgt. Doch die Jahreslosung 2020 sieht den Glauben in einem anderen Stadium. Hart gebeutelt steht der Vater des kranken Kindes vor Jesus. Mit dem Wanken des Vertrauens in das Leben ist auch sein Glaube an Gott mit ins Wanken geraten.

Frage nach Gott

Die Jahreslosung stammt aus diesem Hintergrund, sie könnte treffender nicht gewesen sein. Wo sich die tiefen Wunden zeigen in der geschaffenen Welt, wie es 2020 der Fall war, da bekommt die Zuversicht Risse. Wo das Bitten um Heilung verwehrt wird, wo wir an Totenbetten weinen oder der persönliche Abschied sogar unmöglich geworden ist. Wo trotz Beten und Bemühen die Liebe zerbricht. Wo Menschen gefangen bleiben in sich und durch andere, wo sich die Herren der Knechte nicht erbarmen, die Bösen unbekehrt bleiben und wo der Krieg den Frieden in einem Wimpernschlag zerschmettert… da steigen die Fragen auf: Wo bleibt Gott als starker Helfer? Wo ist der Befreier, wenn wir ihn am nötigsten brauchen?

Ein langes Jahr für Glauben und Zweifel

Diese Fragen haben viele auch in diesem Jahr 2020 begleitet. Zermürbende Fragen, ein zermürbendes Jahr. Das Leid und die Widersprüchlichkeit der Welt sehen – und dennoch Glauben, dennoch Vertrauen haben… das war für viele eine Herausforderung. Für uns selbst und sicher auch für viele, die wir seelsorglich zu begleiten hatten. Aus Zweifeln ist für manche längst Verzweiflung geworden. Verzweiflung am Leben – und an dem Gott, der nicht antworten will.

Glaube auf niedrigster Flamme

Die Bitte des Mannes aus Markus 9 an Jesus ist ziemlich zurückhaltend. „Wenn du etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns…“ Das ist Glaube auf niedrigster Flamme. Mehr Zweifel als Vertrauen. Jesus nimmt die Hoffnungslosigkeit wahr. Er sieht den leidenden Vater. Spricht ihn auf seinen Glauben an. Mit einem eigentlich unmöglichen Satz: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Eine Provokation, angesichts dieser Lebens-, dieser Leidensgeschichte. Die Frage trifft den Vater. Aber nicht als Vorwurf. Eine Sehnsucht wird in ihm angesprochen, die plötzlich in ihm neu erwacht. Glauben können! Vertrauen haben! Hoffen auf Neuanfänge!

„Ich glaube – hilf meinem Unglauben!“ Das ist das ehrlichste Wort, das er hervorbringen kann. Leere Hände, aber geöffnet. Keine Spur selbstzufriedener Glaubensstärke. Kein Funken Gewissheit. Aber ein Meer von Sehnsucht.

Der Unglaube, den der Glaube braucht

Glaube, der die Augen nicht verschließt für die Welt, wird mit dem Zweifel ringen. Er bleibt angefochtener Glaube. Die Verheißungen des guten Gottes und die Realität, die anders aussieht, sind es, die da miteinander fechten und streiten. Wer an einen liebenden Gott glaubt, dem kann das Leid in der Welt nicht gleichgültig sein. In Anfechtung gerät der Glaube gerade deshalb, weil er nach Gottes Gegenwart im Leben fragt und mit ihr rechnet.

Gott ist zerbrochenen Herzen nah

Unsere Nähe zu Gott hängt nicht an der Unerschütterlichkeit unseres Glaubens. Im Gegenteil – der Psalmbeter hat erfahren: „Der HERR ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind…“ (Ps 34,18). Das ist eine Ermutigung an all die, denen der Kinderglaube abhandengekommen ist, die mit den Elenden mitfühlen und um ihretwillen nicht mehr ungebrochen von Gottes Kraft und Stärke reden können. Die aber dennoch nicht aufhören können sich zu sehnen. Denen ist der nahe, der selber Mensch geworden ist: Jesus Christus. Er selbst hat die Anfechtung erlebt: „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Schmerz und Sehnsucht können den Glauben neu anfeuern. Ja, der Glaube braucht sie beide. Sonst wird er kühl und weltabgewandt.

Barmherzigkeit als Mitte des Glaubens

Wenn das Leben, der Glaube so zerbrechlich ist, benötigen wir besonders den liebevollen Blick. Gott – Schöpfer, Bruder, Tröster – schenkt ihn uns. Sieht uns, die wir keine Kinder mehr sind, dennoch mit liebevollem Elternblick an. Denn gerade, wer die Welt mit ihrem Leid und Unrecht ansieht, braucht zum Glauben, Lieben, Hoffen gegen alle Widerstände eine stützende Kraft, eine starke Hand im Rücken. Wer sich angesichts des großen Erdenleids und Unrechts manchmal hilflos, ohnmächtig oder ungenügend fühlt, braucht besondere Barmherzigkeit. Diese Barmherzigkeit finden wir bei Gott, dem „Backofen voller Liebe“. Sie ist das Gegengift gegen Verzweiflung, Apathie und Resignation. Und auch gegen Zynismus, Selbsteinkapselung, fundamentalistische Verkürzungen, wie wir sie heute so oft erleben.

Seid barmherzig.

Das soll darum über dem neuen Jahr stehen, das zunächst einmal nicht leichter werden wird als das alte. Seid darum barmherzig – zu euch selbst. Lasst Gottes Liebe eure Wunden heilen. Schenkt euch Zeit zum Krafttanken.

Seid dann auch barmherzig – zueinander als Geschwister im Glauben. Überfordert euch nicht mit unmenschlichen Ansprüchen.

Und seid barmherzig – mit Menschen, die mit dem Glauben an einen guten Gott immer weniger anfangen können. Seht ihre Verwundbarkeit, ihren Schmerz. Gebt etwas von dem weiter, was euch selber wärmt.

Weil Gott, euer Vater, barmherzig mit euch ist.

Darum könnt ihr es auch sein. Barmherzigkeit ist ein Luxus in unseren Zeiten, wo Schuldzuweisungen, Perfektionsansprüche und Größenwahn Menschen in die Erschöpfung treiben. Barmherzigkeit ist eine wohltuende Insel, die Erschöpften Rückzug bietet. Mögen unsere Gottesdienste, unsere Liturgien, unser Singen und Beten etwas davon ausstrahlen – von der Warmherzigkeit Gottes, die in unserer Mitte steht wie Luthers Backofen und uns alle belebt, tröstet und erwärmt. Das gebe uns der Heilige Geist, Begleiter in das neue Jahr.

2021

Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!

Lukas 6,36

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